1996 ist für die Porsche AG ein entscheidendes Jahr. Zwar fährt das Flaggschiff, der 911, nach wie vor mit Gebläse-Luftkühlung, doch ein Ende ist in Sicht. Als Vorgriff auf den Neunelfer mit Flüssigkeitskühlung – dieser wird zur IAA 1997 in der Frankfurter Messe erscheinen – kommt zunächst der Porsche 968 Boxster mit 204 PS aus 2.480 ccm auf den Markt. Der überaus hübsche, kompakte Roadster muss mehrere Missionen auf einmal erfüllen. Einerseits soll er die Kundschaft an das neue Porsche-Familiengesicht mit den Spiegelei-förmigen Hauptscheinwerfern heranführen und auf die emissionsfreundliche Vierventil-Technologie in der Serienfertigung hinweisen, andererseits soll er Geld einspielen. Dem Düsseldorfer Porsche-Technicus Roland Heidl ist das nicht genug. Im Laufe der Zeit haucht er dem Mittelmotor-Sportler bis zu 397,8 PS aus bis zu vier Litern Hubraum ein – interessanterweise sind das die Leistungsdaten eines Jubiläumsmodells aus dem Werk, das zum 25. Geburtstag des Porsche Boxster auf den Markt gebracht worden ist. Waren Heidls „B996“ und „B997“ in den Jahren nach dem Millenniumwechsel ihrer Zeit weit voraus? Die Geschichte einer Vision – und was das Ganze mit den 24 Stunden von Le Mans zu tun hat.
Dr. Wendelin Wiedeking, Porsche-Vorstandsvorsitzender und Westfale im Schwabenland, hat in den Neunzigern eine Mission. Er will das traditionsreiche, aber auch angeschlagene Unternehmen zurück in die Rentabilität führen, er muss neue Märkte erschließen, muss neue Zielgruppen ansprechen. Allein mit dem Typ 911 als Flaggschiff geht dieser Plan nicht auf, und das weiß der ehemalige Produktionsvorstand nur zu gut. Zunächst lässt er den 968, den letzten Porsche mit Vierzylinder-Frontmotor, aus dem Programm nehmen. Die Lücke, die die veralteten Transaxle-Baureihen hinterlassen haben, muss geschlossen werden. Anders lassen sich die für den Fortbestand erforderlichen Planzahlen kaum erzielen. Es geht schlicht um die Existenz des Sportwagenbauers. Eindrucksvoll ist das Beispiel des 944, der zehn Jahre lang verkauft worden ist. Ein Volumenmodell: Zwischen 1981 und 1991 sind 163.302 Neufahrzeuge vertrieben worden, 16.330 Einheiten im Jahresdurchschnitt. Der anspruchsvolle Porsche-Typ 968 kommt bis zu seiner Einstellung 1995 auf 11.245 Einheiten – nicht genug, um einen Unterbau für den Sportwagen-Evergreen, den 911, darzustellen. Und die dritte Baureihe, der Cayenne, ist noch nicht erfunden worden, jedenfalls nicht offiziell. Erst sechs Jahre später, 2002, nur wenige Monate nach der Euro-Umstellung, wird der Geländewagen aus Leipzig seinen Einstand geben.
1996 muss also ein anderes Volumenmodell her, das dem Zeitgeist der Neunziger entspricht, einen Sechszylinder-Boxermotor besitzt und erweiterte Käuferpotenziale anspricht und nicht nur die klassischen Porsche-Kunden. Es ist die Zeit der kompakten Livestyle-Roadster, die Großserien-Hersteller wie Mazda mit dem Miata MX5, Mercedes-Benz mit dem SLK oder BMW mit dem Z3 entscheidend prägen. Die Gemeinsamkeiten dieser Sportwagen-Generation sind auffallend: Sie sind zum Genießen geschaffen worden, weniger zum Tempobolzen auf der Überholspur. Die Devise lautet: „Fit for fun”, smarte Typen wie der Boxer Henry Maske und der Fußballer Oliver Bierhoff werden zu Idolen. Was als Fitness-Zeitschrift beginnt, wird zur Massenbewegung. Leicht und unbeschwert muss es sein, wenn es Erfolg am Markt haben soll. Der 986 Boxster 2.5 erscheint im richtigen Moment. Obwohl sein Preis Porsche-typisch höher angesetzt ist, baut sich keine Preisbarriere auf. Für junge Selbstständige und leitende Angestellte ist er noch finanzierbar, für viele ist er eine Motivation, ein erreichbares Ziel. Der 986 Boxster 2.5 bietet all jenen, die sich keinen neuen Neunelfer leisten können oder wollen, genau das Produkt, das sie sich wünschen: den Porsche als Türöffner, als Statussymbol, als Stilikone.
Doch was muss ein solches Sportfahrzeug tatsächlich leisten können? Darüber streiten sich die Gelehrten. Tiefer, breiter, härter – das sind althergebrachte Werte, die auf den 986 Boxster 2.5 nicht anwendbar zu sein scheinen. Das ungewohnte Konzept erfordert auch ein neues Denken, das wiederum ist nicht jedermanns Sache. Einer, der sich in die Materie hineinkniet, ist Roland Heidl. Als der neue Porsche 1996 erscheint, hat der Porsche-Technicus die Schwelle zur Dreißig gerade überschritten. Er erkennt: „Wenn ich weiterkommen will, bin ich gut beraten, mich mit der Modellgeneration der Gegenwart zu beschäftigen und nicht bloß festzustellen, dass früher alles besser gewesen ist.“ In dieser Hinsicht verbindet ihn viel mit seinem Vater Rolf Heidl, einem Techniker und Tüftler der alten Schule. „Wir zwei haben denselben Spleen!“, stellt der Düsseldorfer damals fest, „wir lieben es, die Dinge zu verändern. Keiner von uns beiden käme mit der Vorstellung zurecht, als technischer Betriebsleiter eines Porsche Zentrums nur noch Aufträge zu schreiben und abzuarbeiten.“ Heidl junior winkt diese Perspektive damals, doch er winkt ab. Statt dessen sieht er sich die konstruktiven Grundlagen des Porsche-Typs 986 ganz genau an. Dessen Motor ist tief unten vor der Hinterachse platziert worden. Diese Einbaulage dient einer neutralen Gewichtsverteilung, unbestritten. Sie schafft aber auch Herausforderungen thermischer Natur. Wer einen Zugewinn an Leistung anstrebt, kommt ohne Forschergeist nicht allzu weit.
Roland Heidl hat den zwar schon lange in sich erkannt, zweimal erlebt er die 24 Stunden von Le Mans an der Boxenmauer mit, trägt Verantwortung für die Porsche-Projekte ambitionierter Privatfahrer. Dabei lernt er sich selbst besser kennen, spürt in sich den Zweispalt, der vom Erfolgsdruck einerseits und vom Selbstanspruch andererseits ausgeht – und kann sich einfach nicht dem Spannungsbogen entziehen. 1998 verlässt er die mit dem Vater gemeinsam genutzte Werkstatt am Rand der Stadt Langenfeld, stellt sich konsequent auf eigene Beine – und fasst einen kühnen Plan: sein Erstlingswerk, den „B996“. Er will den 3.400 ccm großen Saugmotor aus dem inzwischen in die Welt gebrachten Neunelfer-Typ 996 im 986 Boxster unterbringen. Dazu greift er tief in die Trickkiste. In den hinteren Kofferraumdeckel fräst er Belüftungsschlitze wie bei einem Rennsportwagen, denn darunter, im Gepäckabteil, verbirgt sich ein Ansaugluft-Kasten. Möglichst viel kühle Luft soll in möglichst hoher Strömungsgeschwindigkeit eingefangen werden, um ein Herunterregeln der Motorleistung zu vermeiden. Und die beträgt im ersten Entwicklungsstadium immerhin 320 PS bei 6.750/min. Der gleichsam effektive Abfluss der heißen Abgase ist nicht weniger wichtig. Heidl bringt es auf die einfache Formel: „In dem Maße, in dem Luft in das System eintritt, muss sie auch wieder ausströmen können.“ Dazu verbindet er eigens gefertigte Abgas-Fächerkrümmer, einen 200-Zeller-Katalysator sowie den modifizierten Original-Auspuffendtopf miteinander.
Das Resultat lässt Roland Heidl durch ein auf diesen Anwendungsbereich spezialisiertes Ingenieurbüro überprüfen. Dabei geht es ihm auch um spätere TÜV-Unterlagen, sämtliche Messungen müssen stichhaltig sein. Interessenten mit ernsten Kaufabsichten sind zahlreich, darunter auffallend oft Besitzer des im Jahr 2000 eingeführten Boxster S. Mit seinem 3,2 Liter großen Motor leistet das neue Spitzenmodell 252 PS – da ist der Sprung zu 320 PS aus 3.387 ccm Hubraum im „B996“ offenbar nicht ganz so groß. „Oder auch zum 911 Cabriolet“, mutmaßt Heidl seinerzeit. Einen gewissen Brückenschlag zum Neunelfer vollführe sein Boxster-Upgrade ohnehin: Der vordere Stoßfänger stammt vom Porsche 911 GT3 Cup, die Kotflügel aus Stahlblech vom 911 turbo der Generation 996. Grüne Augen – jeweils drei kleine Leuchten, gehalten von einem Lampenkorb aus Kohlefaser – verhelfen der Frontpartie zu noch mehr Ausdrucksstärke. Kantig ausgeformte Seitenschweller-Verkleidungen setzen BBS-„Le Mans“-Räder in 19-Zoll-Dimensionen in Szene. Ein H&R-Gewindefahrwerk in Komfortabstimmung ermöglicht ihren Einsatz, denn ein Pneu mit hohem Querschnitt und entsprechend hoher Dämpfkraft ist in der 19-Zoll-Liga nicht zu erwarten – bis der koreanische Reifenhersteller Kumho zur „Tuning World Bodensee“ in der Neuen Messe Friedrichshafen im Frühjahr 2005 als Kooperationspartner auf den Plan tritt.
Zu diesem Zeitpunkt ist ein weiterer Entwicklungsschritt in die Tat umgesetzt: Die Frontpartie entspricht nun der 2004 vorgestellten Neunelfer-Generation 997. Bis zur „Essen Motor Show“ 2006 in der Essener Messe hat sich das einst distinguierte Lackkleid in eine farbenprächtige Hommage an den Porsche 908/3 verwandelt. Und auch an der Wagenunterseite tut sich nochmals einiges. Dort sitzt nämlich der Motor, und dessen Hubraum schwillt mit der Zeit von 3.400 ccm auf vier Liter an. Roland Heidl tauft sein Evolutionsmodell in „B997“ um, die Leistung erreicht die 500-PS-Schallmauer – eine Rakete auf Rädern. „Das Aggregat lebt bei linear ansteigenden Drehzahlen ebenso linear auf“, hatte der Baumeister sein Werk einst beschrieben. 2003 war das, bei der ersten Begegnung. „Man muss es nicht treten, um es zur Entfaltung kommen zu lassen.“ Am Volant kommt in den ersten Jahren nach der Jahrtausendwende der Eindruck auf, per Express in Richtung Le Mans unterwegs zu sein – erst recht nach der radikalen Verwandlung in den „B997“, der 1.290 Kilogramm Leergewicht mit den Fahrleistungen eines 911 GT3 kombiniert. Porsche widmet dem 25 Jahre jungen und in vier Generationen 357.000-fach produzierten Erfolgstyp eine verblüffend ähnlich konzipierte Sonderedition zum Jubiläum. Mit einem vier Liter großen Sechszylinder-Saugmotor, 294 kW (400 PS) – und der Gewissheit, dass der große Plan des ebenso „Großen Vorsitzenden“, Dr. Wendelin Wiedeking, 1996 aufgegangen ist. Der Boxster hat den Verkaufserfolg der Frontmotor-Baureihen nicht nur übertroffen. Er hat ihn mehr als verdoppelt – und Pioniergeister wie Roland Heidl zu besonderen Interpretationen auf Boxster-Basis inspiriert.
Ende der Geschichte?
Nein, das geht zwangsläufig nicht. Denn da, wo es um faszinierende Materie geht, stehen die Räder niemals wirklich still.
Verantwortlich für den Inhalt: Carsten Krome Netzwerkeins
Anmerkung von My Next Classic:
„I have a Dream. B997: die verwirklichte Boxster-Vision des Roland Heidl.“ ist zuerst erschienen auf der Website von Roland Heidl Automobiltechnik. Wir danken Herrn Heidl für die Erlaubnis den Artikel in unserem Blog „Boxenstopp“ zu veröffentlichen.
Seit mehr als einem Vierteljahrhundert steht der Name Heidl für Porsche-Kompetenz in Düsseldorf und weit über die Stadtgrenzen hinaus. Neben den klassischen Leistungen einer Porsche-Werkstatt ist Roland Heidl Spezialist für außergewöhnliches und einzigartiges Porsche-Tuning.
Als Roland Heidl seinen B997 (bestückt mit einem 4.0l 6-Zylinder Motor auf Basis eines GT3-Triebwerks) auf der Essen Motor Show im Jahre 2006 präsentierte, war er dem Hersteller Porsche also etwa 14 Jahre voraus, bis die Zuffenhausener den Porsche 718 Spyder/Boxster GTS 4.0 in den Jahren 2019/2020 mit einem ähnlichen Triebwerk und 4.0l Hubraum auf den Markt brachten. Dies verdient unsere vollste Anerkennung, da diese Modelle heutzutage nicht nur sehr erfolgreich verkauft werden, sondern auch schon jetzt gesuchte Klassiker der Zukunft sind.